Wut hat viele Gesichter - auch in der Trauer
Trauer wird oft mit leisen, traurigen Bildern verbunden: Tränen, Stille, Sehnsucht. Doch es gibt auch andere Töne. Wut zum Beispiel. Sie ist selten willkommen – und wird noch seltener offen ausgesprochen. Dabei gehört sie dazu. Nicht immer laut, nicht immer explosiv. Manchmal schleicht sie sich ein. Zart, fast still. Eine Wut in Moll.
Wenn Schmerz keine Worte findet - und Wut die Stimme erhebt
In Gesprächen mit Trauernden taucht sie immer wieder auf – diese unterdrückte, kaum gezeigte Wut. Wut auf den Tod, der alles aus der Bahn wirft. Wut auf Menschen, die einfach weitermachen. Wut auf sich selbst, für versäumte Gespräche oder Entscheidungen. Und manchmal auch Wut auf die verstorbene Person. Weil sie gegangen ist. Weil sie Fragen hinterlässt. Weil sie fehlt – so sehr, dass es kaum auszuhalten ist.
Wut ist kein Tabu - sie ist Teil der Bindung
Wut in der Trauer wird häufig missverstanden. Sie gilt als unangebracht, unschön, zu roh. Doch sie ist ein Ausdruck von Beziehung. Ein Zeichen dafür, dass da etwas Wichtiges war – und noch immer ist.
Ich erlebe in meiner Begleitung, wie wichtig es ist, dieser Wut Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht, um sie zu bewerten oder zu dämpfen – sondern um ihr Ausdruck zu ermöglichen, damit sie gesehen werden kann.
Was Wut uns sagen will
Wut ist oft ein Hinweis auf Schmerz, auf Überforderung, auf Verletzung. Sie kann uns helfen, Grenzen zu spüren. Sie schützt. Sie mobilisiert. Und sie macht deutlich, dass etwas in uns in Bewegung geraten ist. Dass Schmerz gesehen werden will, bevor er sich in uns festsetzt. Und dass eine Grenze erreicht ist, die vielleicht zu lange übergangen wurde.
Wut kann ein Versuch sein, Kontrolle zurückzugewinnen – in einer Situation, die sich vollkommen ohnmächtig anfühlt. Sie darf gespürt und – in sicherem Rahmen – auch ausgedrückt werden. Nicht um anderen zu schaden, sondern um sich selbst ernst zu nehmen.
In der Trauerbegleitung zeigt sie sich immer wieder: Wut enthält oft etwas, das gesehen, gehört und verstanden werden möchte.
Wut in Moll - ein leiser Aufschrei der Liebe
Diese leise Form der Wut hat nichts Zerstörerisches. Sie ist keine Anklage. Sie bringt etwas in Bewegung, das gehört werden will. Kein Rückzug – sondern ein Ausdruck, der oft zu lange unterdrückt wurde.
Ich glaube: Auch diese Wut ist ein Zeichen der Verbundenheit. Und sie verdient Aufmerksamkeit – nicht als Problem, sondern als Teil eines tiefen inneren Prozesses.
Meistens verändert sie sich mit der Zeit. Wird leiser. Klarer. Weicher. Vielleicht entsteht daraus etwas Neues – ein Verstehen, ein Loslassen, ein innerer Frieden.