Und dann bist Du nicht mehr da

Und dann bist Du nicht mehr da
Autor:in
Anne Lindenschmidt

Romulus

Du liegst in Deiner Box. Hast das Stroh noch zwischen Deinen Zähnen. Schaust ganz friedlich aus. So, als würdest Du schlafen. Aber mit offenen Augen.

Einen Tag vorher bist Du noch über die Weide galoppiert, hast gebuckelt und ich habe gedacht, dass man Dir gar nicht anmerkt, dass Du schon 28 Jahre alt bist. Das ist wirklich ein stolzes Alter für ein Pferd.
Ich habe mich noch für ein paar Minuten auf die Weide gesetzt und Dich beobachtet. Hätte ich gewusst, dass ich Dich das letzte Mal lebend sehe, wäre ich nicht aufgestanden und weggefahren.

Ich habe Dich bekommen, als Du gerade mal drei Jahre alt warst. Und ich dreizehn. Du hast mich mehr als die Hälfte meines bisherigen Lebens begleitet. Wir sind miteinander groß geworden und sind zusammengewachsen.
Du warst mein Halt, mein Fels, mein Anker. Mein bester Freund.
Meine Stille. Nicht reden. Nur da sein. Kein Trubel. Keine Fragen.

Du warst ein sehr außergewöhnliches, sensibles und loyales Pferd. Du hast es niemals ausgenutzt, dass Du so stark warst und es für Dich ein Leichtes gewesen wäre, mich abzuwerfen, über den Hof zu schleifen oder meine Hilfen beim Reiten zu ignorieren.
Aber Du konntest mich auch zur Weißglut bringen.
Richtig böse sein konnte ich Dir nie. Du warst ein Pferd mit einem ganz außergewöhnlichen Charakter.
Ich habe viel von Dir gelernt. Was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Verlässlichkeit, Loyalität, Freundschaft, Treue, Verbundenheit, Unbekümmertheit, Liebe.

Ich komme mir vor wie in einem Film. Lege mich zu Dir. Es fühlt sich an wie Stunden. Meine Mutter drückt mir eine Rose aus dem Garten in die Hand. Immer wieder kommen Menschen. Was sie sagen, bekomme ich gar nicht mit. Ich bin wie in einem Tunnel.
Auch die Tage nach Deinem Tod bin ich nicht richtig da. Ich verbringe die meiste Zeit im Bett, die Vorhänge zugezogen. Es ist mir egal, wie die Wohnung aussieht. Mir, der alten Ordnungs-Fanatikerin. Alles ist mir egal.

Du bist weg. Und kommst nicht zurück.

Ich habe Dich in Holland einäschern lassen. Auf dem Karton mit Deiner Asche liegen Deine Hufeisen und die getrocknete Rose. Die Dame fragt, ob ich ihr etwas über Dich erzählen möchte. Ich schüttele den Kopf und kann nicht aufhören zu weinen.

Den Karton mit Deiner Asche lege ich unter den Schreibtisch im Wohnzimmer.
Niemand kann mir vorschreiben, wie lange er dort liegen soll. Und was normal ist oder nicht. In der Trauer gibt es kein Richtig oder Falsch. Ich weiß, dass die meisten es befremdlich finden, einen Karton mit der Asche eines Pferdes bei sich zu Hause zu haben. Und es ist mir egal. Denn es geht nicht um sie. Es geht um Dich und mich. Um meinen Verlust. Meine Trauer. Meinen Schmerz.

Irgendwann im Oktober ist es Zeit für mich, Deine Asche zu zerstreuen.
Ich fahre in das kleine Wäldchen hinter der Weide, auf der Du zuletzt gestanden hast. Es ist ein wirklich schöner Herbsttag. Die Sonne scheint, bunte Blätter liegen auf dem Feldweg, die Luft ist klar.
Ich öffne den Karton und fange an, deine Asche zu verstreuen. Ich habe sie mir irgendwie feiner vorgestellt. So wie Du warst. Fein, edel, anmutig. In manchen Momenten majestätisch. Dein Stolz, Deine Unerschrockenheit, Dein Mut. Für Dich gab es keine Grenzen.

Du bist der bisher größte Verlust in meinem Leben.

Schwach zu sein. Fragil. Haltlos. Meinen Tränen freien Lauf lassen.
Meinen Schmerz zulassen. Meine Wut zulassen. Meine Trauer zulassen. Sie zu spüren, auch wenn sie manchmal nicht auszuhalten war.
So habe ich gelernt, mit Deinem Fehlen zu leben - und mit Deiner Nähe weiterzugehen.

Du bist in meinem Herzen bei mir. Auch heute noch. Zehn Jahre später. Und Du wirst es auch immer bleiben.

Ich bin dankbar für die tollen Momente und die lange und außergewöhnliche Zeit, die wir zusammen hatten. Diese Erinnerungen kann mir niemand nehmen.

Und ich weiß: Du bist nicht fort. Du bist nur woanders.

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